Schreibwerkstatt
Freude an Texten – die Schreibwerkstatt
In jedem Heft gehören zwei Seiten der Schreibwerkstatt.
Hier kann jede und jeder mitmachen, der gerne schreibt, Freude an frischen Themen und gemeinsamen Aktionen hat. Regelmäßig treffen sich Verkäuferinnen, Verkäufer, Wärmestubenbesucher und andere Bürger in der Redaktion, um Themen zu erarbeiten und Texte zu schreiben. Namhafte Illustratoren setzen die Ergebnisse ins richtige Bild.
Termine bitte in der Redaktion erfragen! Telefon 0911 217593-0
Hier auf der Online-Seite der Schreibwerkstatt finden Sie aktuelle Texte aus der Schreibwerkstatt, aber auch Beiträge, die im Magazin aus Platzgründen entfallen mussten.
Besuch aus Japan
Shoji Sano, Gründer der japanischen Straßenzeitung "The Big Issue" aus Osaka, sowie die beiden Kolleginnen Yoko Mizukoshi (Chefredakteurin) und Sano Miku (Managerin Tokio), kamen zum Kurzbesuch nach München und Nürnberg, um sich über die Festanstellungen bei BISS und Straßenkreuzer sowie über die Stadtführungen zu informieren.
Begleitet wurden sie von Tomo Miichi, die als Journalistin in Belin lebt und arbeitet - und zum Glück sehr gut Deutsch spricht. So konnten alle "Straßenkreuzer" schwellenfrei mitreden. Hai!
So erfuhren wir auch, dass in Japan beinahe täglich viele tausend Menschen gegen die Atompolitik im Lande demonstrieren, dass immer mehr junge Leute keinen Job finden und dass 150 Frauen und Männer jeden Monat rund 60.000 Exemplare von Big Issue Japan verkaufen. Nun sollen die ersten Verkäufer eine Festanstellung bekommen.
Neu erfunden
Die berühmt erwarteten, oder auch gefürchteten Neuanfänge im Leben.
Kindergarten, Schule, Ausbildung, Jobwechsel, Partner, Ehe, Scheidung.
Wie oft schon habe ich neu begonnen. Einiges bewusst gewählt, anderes notgedrungen, manchmal auch gezwungenermaßen.
Nicht immer hat mir das Leben eine Schultüte an die Hand gegeben, als Hilfestellung oder Unterstützung. Wobei – auch die Schultüte ist nie nur mit Belohnung gefüllt. Da verirren sich viel zu leicht gesunde, oder auch praktische Dinge hinein. Die Fantasie wird selten bedient, immer schwingt ein wenig Enttäuschung in der Luft.
Ja, oft schon hab ich mich neu erfunden, hat man mir bestätigt. Aber kann man sich neu erfinden? Ist nicht alles Potential bereits in mir? Und ich entscheide Tag für Tag, was ich lebe? Entscheide wie gut – wie schlecht es mir geht? Wäre ich unabhängig vom Außen, dann könnte ich das, aber an diesem Reifegrad arbeite ich noch. Tag für Tag -Oooohhhhmmmm!
Siglinde Reck
Nächster Versuch
Wie oft habe ich versucht in einer Wohnung zu leben, aber es hat nie geklappt. Immer wieder habe ich nach zwei Wochen meine Wohnung wieder verlassen, den Schlüssel einfach in den Briefkasten geschmissen. Es war egal, in welcher Stadt ich war. Ob in Wiesbaden, München oder Hamburg, immer waren es nur ein paar Wochen. So vergingen 23 Jahre auf der Straße. Seit zwei Jahren habe ich eine Wohnung in Nürnberg, aber es ist schwer. Immer plagt mich der Zweifel, ist es richtig zu bleiben oder soll ich wandern?
Aber meine Gesundheit lässt es nicht zu, wieder auf Reisen zu gehen. So bleibt mir nichts übrig als ab und zu im Schlafsack auf meinem Balkon zu schlafen.
Andreas Schütze
Das tragende Dach
Die Gruppe sah sich um. Stolz zeigte der Architekt nach oben: „Sehen Sie hier, meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen das erste vollständig selbsttragende Dach der Welt zeigen!Jahrelange Berechnungen haben mich zu dieser einzigartigen Konstruktion gebracht.“ Die Blicke der Reisenden wanderten nach oben. Elegante, silbrig glänzende Stahlstreben hingen über ihren Köpfen in der Luft und durchschnitten die Decke in genau aufgeteilte Bezirke, die wiederum in kleinere Flächen unterteilt wurden.
„Und fällt Ihnen etwas auf?“ fragte er weiter. „Es kommt ohne einen einzigen Stützpfeiler aus!“ Staunend suchten die Augen der Anwesenden nach Pfosten, die die Träger im Untergrund verankert hätten, aber es gab wirklich keinerlei Verbindung zur Erde. Dafür dehnte sich das Dach in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont aus.
„Es ist wie eine Hülle“, fuhr der Architekt fort, „es umschließt uns als Kreis, und um unsere Erde gelegt stabilisiert es sich aus sich selbst heraus!“ Sehr zufrieden blickte er in die Runde. „Das Dach bietet Schutz vor jedem Gewitter und allen Stürmen.“
„Aber wo bleibt dann die Sonne?“ fragte ein kleines Mädchen schüchtern. Etwas verwirrt sah der Architekt auf sie herab.
„Gibt es auch Fenster?“ fragte ein Mann mit Brille. Ratlos blickte der Architekt in ihre Gesichter und fragte sich, was an seiner Konstruktion falsch sein sollte.
Ein großer Mann sagte: „Mir ist die Decke zu niedrig!“ und streckte sich, um mit der Hand einen der Stahlträger zu berühren. „Nicht!“ rief der Architekt besorgt, aber da war es schon zu spät: die Hand des Mannes fuhr durch den Balken wie durch Butter. „Aber das ist ja gar kein Stahl!“ rief er erstaunt aus. „Das ist ja Nebel!“
Da nahm eine Frau ihr Kopftuch ab und wedelte damit in der Luft herum. Der entstandene Wind verformte die Balken zu Schlieren, und als adere anfingen zu pusten und ebenfalls mit den Armen zu rudern, riss plötzlich die Hülle auf.
Durch die Lücke aber funkelten Sterne von einem endlos weiten Himmel.
Elisabeth Heyn