Interview mit John Bird

„Von mir erhalten die Armen eine Chance, nichts anderes“
Nach Tony Blair und seiner Labour-Regierung regieren seit 2010 konservativen Torys unter David Cameron. Wie hat sich dieser Wechsel auf die Situation der Obdachlosen im Königreich ausgewirkt?
John Bird: Tony Blair versorgte Organisationen, die sich um Obdachlose und deren Unterbringung kümmerten, mit viel Geld. Das hatte zur Folge, dass diese Institutionen immer größer wurden. Die Obdachlosigkeit verschwand zwar nicht, aber viele Menschen ohne Zuhause erhielten ein Dach über dem Kopf. Doch um ihre psychische Verfassung kümmerte sich kein Schwein. Dafür hatten viele Unternehmer große Freude an der Politik von Blair. Schließlich sorgte sie dafür, dass sich die Obdachlosen nicht mehr vor Geschäftseingängen niederließen.
Und Cameron?
Jetzt haben wir eine Regierung, welche die Menschen tatsächlich vorwärtsbringen möchte. Bloß verfügt der Premierminister nicht über genügend Mittel, um dieses Vorhaben auch umzusetzen. Weshalb man sich meist damit begnügt, die Budgets ein bisschen hin und her zu schieben.
Haben sich die Ursachen von Obdachlosigkeit in Großbritannien in den vergangenen zehn Jahren in irgendeiner Form geändert?
Ich halte nichts davon, nur auf die vergangenen zehn Jahre zu blicken. Die Geschichte der Obdachlosigkeit beginnt nach 1830 – mit dem Aufstieg Großbritanniens zur führenden Industrienation. Dabei entstand auch das erste Industrieproletariat weltweit. Das Land unternahm alles Mögliche, um die Massen von einer Revolution abzuhalten. Dazu gehörte nicht zuletzt die Förderung des Fußballs, die dazu dienen sollte, das Proletariat beschäftigt und bei Laune zu halten. Die Regierung tolerierte sogar die Gründung von Gewerkschaften. In die Wohlfahrt oder die Ausbildung der Menschen wurde jedoch so gut wie nicht investiert. Das änderte sich erst mit den beiden Weltkriegen. Danach gab es endlich Bemühungen, den Arbeitern den sozialen Aufstieg in die Mittelklasse zu ermöglichen.
Und als Margaret Thatcher 1979 Premierministerin wurde, war es damit bereits wieder vorbei, oder?
Maggie Thatcher hatte sich zum Ziel gesetzt, alle großen Industrien, welche Ende der Siebzigerjahre dem Staat gehörten oder von diesem subventioniert wurden, vom Staat abzunabeln. Die Schifffahrtsindustrie, die Kohlebergwerke, das Stahlgeschäft, die Autoindustrie oder die Eisenbahnen. Industrien zu schützen oder zu unterstützen gehörte aus ihrer Sicht nicht zu den Aufgaben eines modernen Staates. Also wurden die Industrien kurzerhand verkauft oder dichtgemacht. Maggie Thatcher verpasste es jedoch, diesen Einschnitt für eine technologische oder soziale Revolution zu nutzen. Eine Unterlassungssünde, die zu einer neuen Unterklasse führte.
Ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft?
Genau. Maggie Thatcher ließ zu, dass unzählige Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Vielen von ihnen, speziell die jungen, verloren ihre Wohnung. Daran war nicht der Kapitalismus schuld, sondern einzig und allein die Regierung. Zwar verfügt Großbritannien bis heute über eine Art sozialer Sicherheit. Doch diese verliert mehr und mehr an Wert.
Wie zeigt sich dieser Werteverlust?
Vor wenigen Monaten hat mich eine junge Frau kontaktiert und mir von ihrem großen Traum erzählt, die Universität zu besuchen. Doch weil ihr Mann tot ist, weil sie Kinder hat und Sozialhilfegelder bezieht, ist ihr dieser Weg versperrt. Das ist keine soziale Sicherheit, das ist soziale Unsicherheit.
Wir haben also eine unglaublich stupide Regierung, die Armut kreiert, indem sie den sozialen Aufstieg verhindert.
Sie selbst sind in Armut aufgewachsen und waren mehrmals obdachlos.
Ich stamme aus einer irischen Familie, die sich in London niederließ. Als meine Eltern heirateten, begannen die Probleme, weil die beiden nicht mit Geld umgehen konnten. Sie hätten sich maximal ein Kind leisten können, hatten aber sechs. Ihre kargen Mittel flossen nicht in den Nachwuchs, sondern in Alkohol und Zigaretten. Ich wuchs in einem Slum auf, zusammen mit anderen Menschen, die sich vom Leben betrogen sahen. Und als meine Eltern die Miete nicht mehr zahlen konnten,
verloren wir sogar dieses armselige Dach über dem Kopf. Meine ersten Jahre waren von Gewalt gegen Frauen und Kinder geprägt. Als Teenager begann ich Drogen zu nehmen und wurde zu einem starken Trinker. Bereits als Zehnjähriger wurde ich von der Polizei gesucht.
Gaben Sie Ihren Eltern die Schuld für Ihren Weg?
Nein. Mir wurde der katholische Glaube eingetrichtert, und der besagte, dass meine Lebensumstände von Jesus gewollt waren. Allzu christlich war meine Familie allerdings nicht. In meinem Umfeld gehörte es zum guten Ton, Schwarze, Juden oder Inder zu beschimpfen. Mit 21 Jahren flüchtete ich vor der Polizei nach Paris, wo ich zum Marxisten wurde. Erst als ich mir selbst das Druckerhandwerk beibrachte, begann ich mein Leben wirklich zu ändern. Es war nach meinem 30. Geburtstag, als es mir dämmerte, wie viele Menschen froh wären, hätten sie – so wie ich – die Gelegenheit, eigenes Geld zu verdienen.
Gab es in Ihrem Leben so etwas wie einen Wendepunkt?
Mit 16 Jahren lernte ich in einem Jugendgefängnis lesen und schreiben. Das hat mir enorm geholfen. Ohne diese Fähigkeiten wäre nichts aus mir geworden.
Als Gordon Roddick, der Ehemann von Body-Shop-Gründerin Anita Roddick, 1991 mit der Idee auf Sie zukam, ein Straßenmagazin zu gründen, wollten Sie zunächst nichts davon wissen. Warum?
Weil ich nie ein Gutmensch war. Und weil ich nichts von Wohltätigkeitsorganisationen halte. Ich verspüre gegenüber den Armen keine sentimentalen Gefühle. Ich bin der Auffassung, dass viele Arme böse und gemein sind, denn: Wer in schlechten Zeiten zur Welt kommt, in Slums vegetiert und vernachlässigt wird, benimmt sich gegenüber anderen in der Regel nicht sonderlich nett. Schon damals begegnete ich immer wieder Menschen, die mit den Armen sympathisierten. Doch warum gibt es eigentlich so viele Leute, die zwar Mitleid mit den Armen haben, aber nicht das Geringste gegen die Armut unternehmen? Als Gordon mir die Idee eines Straßenmagazins schmackhaft machen wollte, sagte ich: „Von mir erhalten die Armen eine Chance, nichts anderes.“ Er fand meine Haltung lächerlich. Schließlich war und ist er ein Geschäftsmann. Und will ein Geschäftsmann beweisen, dass er Herz hat, dann verschenkt er etwas. Das ist unsinnig, aber publikumswirksam. Gordon Roddick erinnert mich bei jeder Gelegenheit daran – natürlich mit einem Lächeln –, dass er es war, der den Erfolg von The Big Issue ermöglicht hat.
Und was antworten Sie ihm?
Dass er seine Glaubwürdigkeit und seinen guten Ruf mir verdankt. Wir haben nicht nur The Big Issue, sondern – zusammen mit weiteren Partnern – auch INSP gegründet, das Internationale Netzwerk der Straßenzeitungen.
Wie kam es überhaupt zu Ihrer Freundschaft mit Gordon?
Wir sind uns begegnet, als ich 21-jährig und er noch weit davon entfernt war, ein Multimillionär zu sein. Ich versteckte mich damals vor der Polizei, aber auch vor meiner ersten Frau und dem Sozialamt. Gordon war in dieser Zeit ein Kumpel. Danach habe ich ihn 20 Jahre lang aus den Augen verloren. Als wir uns wieder begegneten, war er schwerreich. Also belästigte ich ihn mit einigen meiner Ideen. Mir schwebte unter anderem ein Magazin für die Arbeiterklasse vor. Doch dann ist alles anders gekommen.
Was war die größte Hürde in den Anfangszeiten von The Big Issue?
Dass man uns die Magazine klaute. Worauf ich den stärksten und eindrucksvollsten Verkäufer als Aufpasser einstellte. Eine große Hürde ist bis heute die Tatsache, dass zwar viele The Big Issue kaufen, aber nicht anerkennen wollen, dass auch die Obdachlosen ein Teil unserer Gesellschaft sind.
Verkauft sich The Big Issue gut?
Am meisten Magazine haben wir in der Zeit vor 9/11 verkauft. Nach den Anschlägen in New York hielten sich die Menschen auch in Großbritannien deutlich seltener im öffentlichen Raum auf. Das hätte uns beinahe das Genick gebrochen. Heute erreichen wir wieder rund 60 Prozent der damaligen Auflage, das entspricht gut 125 000 Heften pro Woche. Allerdings zeigen die Zahlen seit Längerem wieder nach oben. Das bedeutet auch, dass die Armut wieder wächst. Es ist ganz wie beim Bestatter. Dieser wird reich, wenn tödliche Krankheiten umgehen. In Fall von The Big Issue geht es um eine soziale Krankheit. Auch diese kann tödlich sein.
Wie politisch darf oder soll ein Straßenmagazin sein?
Das ist und bleibt das große Rätsel für mich. Gerade, weil ich mich als überaus sozialen und politischen Menschen sehe. Ich mag weder die traditionelle Linke noch die traditionelle Rechte. Müsste ich meine politische Einstellung beschreiben, dann würde ich mich am ehesten als katholischen Post-Marxisten einstufen. Die Frage ist aber eine andere: Machen wir The Big Issue, um den Obdachlosen eine legale Gelegenheit zu verschaffen, Geld zu verdienen? Oder machen wir das Heft, weil wir in der Verantwortung stehen, den gesellschaftlichen Status quo zu verändern? Es ist eine Gratwanderung. Einerseits setzen wir auf leicht verdauliche Themen, von der sich die Käuferschar angesprochen fühlt, und andererseits streben wir den sozialen Wandel an. Heute bin ich der Auffassung, dass letzterer Punkt entscheidend ist. Aber sozialer Wandel lässt sich nicht mit einem Straßenmagazin erzielen, dafür braucht es andere Kanäle. Das ist einer der Gründe, warum ich die Ernennung zum Baron akzeptiert habe. Dadurch gehöre ich jetzt dem House of Lords an, dem Oberhaus des britischen Parlaments. Ein guter Ort, um für den sozialen Wandel zu werben. Wenn nötig, auch lautstark.
www.thebigissue.com
John Bird wurde im Londoner Stadtteil Nottinghill geboren. Als er fünf Jahre alt war, wurde seine Familie obdachlos. Zwischen seinem siebten und zehnten Lebensjahr kam er in ein Waisenheim. Als Jugendlicher jobbte er als Austräger eines Metzgers und besserte sein Gehalt immer wieder durch Diebstahl auf. Erst nach diversen Gefängnisaufenthalten lernte der irischstämmige Brite Lesen und Schreiben und besuchte später die Chelsea School of Art. Bevor er sich selbst das Druckerhandwerk beibrachte, war er nochmals längere Zeit obdachlos. 1991 gründete er das Straßenmagazin The Big Issue, das heute von rund 2000 Verkaufenden vertrieben wird. Am 30. Oktober 2015 wurde der Sozialunternehmer ins britische Oberhaus berufen – als Baron Bird.
Interview: Michael Gasser, freier Journalist in Basel, hier für Surprise | Foto: INSP Newsservice